Eine für August geplante, aber wegen Covid-19 verschobene Wahl war der Funke, der zu einer Eskalation der ethnischen Konflikte in Äthiopien geführt hat. Menschenrechtsorganisationen berichten von Massakern. Mehr als 11.000 Äthiopier flohen diese Woche aus dem Land von Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed. Das könnte sich auch das Nachbarland Eritrea auswirken. Und damit auf die Schweiz.
In Eritrea herrscht Präsident Isaias Afwerki seit 27 Jahren mit eiserner Faust. Jedes Jahr flüchten Zehntausende Eritreer vor Verhaftung, Vergewaltigung, Folter und Mord durch die Behörden, unter anderem in die Schweiz. Nach dem Friedensschluss mit Äthiopien vor zwei Jahren droht jetzt eine neue Herausforderung: Das Land grenzt direkt an die äthiopische Unruheregion Tigray.
Dort leben laut UNO mehr als 96000 eritreische Flüchtlinge. Nach Einschätzung der Experten der International Crisis Group (ICG) könnte die neue Freundschaft zu Äthiopien für Eritrea unerwartet zum Verhängnis werden: «Eritrea, dessen Präsident Abiy nahesteht, könnte durchaus in die Konfrontation mit reingezogen werden.» Eine neue Flüchtlingswelle ist nicht ausgeschlossen.
Was in Äthiopien passiert ist
Vergangene Woche beschuldigte der äthiopische Ministerpräsident die Machthaber in der semiautonomen Provinz Tigray, einen Stützpunkt der nationalen Armee angegriffen zu haben. Ihre Truppen hätten auf äthiopische Soldaten geschossen. «Damit wurde die rote Linie endgültig überschritten», so Abiy. Seine Regierung rief einen sechsmonatigen Ausnahmezustand in der Region aus und ordnete eine Militäroffensive an. Seitdem eskaliert die Lage in der nördlichen Region zusehends.
Amnesty International verurteilte ein Massaker in der Stadt Mai-Kadra, bei dem «etliche, vermutlich Hunderte, erstochen oder zu Tode gehackt» wurden. Aufnahmen zeigten Leichen in der ganzen Stadt verteilt. Bei ihnen habe es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Tagelöhner gehandelt, die nicht an dem Konflikt beteiligt waren. Ministerpräsident Abiy liess keine Zeit verstreichen, um die «Volksbefreiungsfront von Tigray» (TPLF) verantwortlich zu machen.
Jahrzehntelang dominierte die ethnische Minderheit der Tigray Äthiopiens Politik. Das änderte sich 2018 mit dem Amtsantritt des einstigen Hoffnungsträgers Abiy. Er entliess zahlreiche Beamte und Politiker aus der Volksgruppe. Während die Reformen unter dem Banner der Korruptionsbekämpfung stattfanden, sehen Nationalisten im Norden des Landes einen Versuch, die Ethnie aus ihrer traditionellen Machtposition zu drängen. Im Streit verliess die TPLF, einst die mächtigste Partei des Landes, letztes Jahr resigniert die Regierungskoalition.
Friedensnobelpreisträger nennt Militärschlag einen Erfolg
Im bereits gespannten Klima sollte vergangenen August gewählt werden. Dann kam Corona. Die Regierung in der Hauptstadt Addis Abeba verschob die Wahlen aufgrund der Pandemie, doch die Regionalregierung in Tigray preschte im September mit dem Urnengang voran. Seither herrscht Eiszeit. Addis Abeba drehte der Region den Geldhahn zu; beide Regierungen betrachten einander als illegitim.
Der Ministerpräsident, der 2019 den Friedensnobelpreis erhielt, vermeldete den Militärschlag in der Nacht als Erfolg. Aufrufe der Vereinten Nationen und zahlreicher Staaten, die eine Deeskalation forderten, wurden ignoriert.
UNO warnt vor Massenflucht
Unterdessen warnt die UNO vor einer Massenflucht. «Tausende» seien diese Woche in den benachbarten Sudan geflohen, wie das Hohe UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) mitteilte. Die UNO-Agentur rechnet mit einem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen in den kommenden Tagen. Über die genaue Lage herrscht Ungewissheit, denn die Behörden haben die Region abgeriegelt.
«Telefonleitungen bleiben gekappt», so die UNO-Nothilfekoordination (OCHA) am Donnerstag. Normalerweise versorgt die Organisation mehr als 600000 Notleidende in der Region mit Lebensmitteln. «Da die Strassen gesperrt sind, gibt es derzeit keine Chance, Nahrung, Medikamente und andere Hilfslieferungen nach Tigray zu bringen.»
Bereits seit längerem rumort es in Äthiopien. Während Abiy den Konflikt mit dem einstigen Erzfeind Eritrea beilegen konnte, leidet seine aufstrebende Wirtschaftsmacht zunehmend unter ethnischen Spannungen. Mehr als 90 verschiedene Volksgruppen leben hier. In den vergangenen Jahren bedroht jedoch ein wachsender ethnischer Nationalismus den Zusammenhalt.
Erst im Juli entluden sich die Spannungen in einem tagelangen Gewitter aus Protesten und Übergriffen. Der beliebte Sänger Hachalu Hundessa, für viele Äthiopier ein Volksheld, wurde von unbekannten Tätern erschossen. Bei den darauffolgenden Protesten starben mindestens 160 Menschen. Quelle